Patientensicherheit

Im Jahre 2002 erstellte der Expertenkreis "Patientensicherheit" des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ – gemeinsame Einrichtung von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung) einen Aktionsplan der Ärzteschaft zum Thema "Patientensicherheit und Fehlervermeidung"; dieser Aktionsplan wurde im Anschluss von der Planungsgruppe des ÄZQ verabschiedet.

Aktionsplan Ärzteschaft

Im Jahre 2002 erstellte der Expertenkreis "Patientensicherheit" des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ – gemeinsame Einrichtung von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung) einen Aktionsplan der Ärzteschaft zum Thema "Patientensicherheit und Fehlervermeidung"; dieser Aktionsplan wurde im Anschluss von der Planungsgruppe des ÄZQ verabschiedet.

Aktionsplan – Überblick

  • Sensibilisierung der Fachöffentlichkeit für das Thema "Fehlermanagement"
  • Entwicklung und Implementierung eines Trainingsprogramms "Fehlermanagement in der Medizin"
  • Einrichtung von Diskussionszirkeln zu "Fehlermanagement in der Medizin"
  • Schaffung von Grundlagen für Analyse von fehlerbedingten Ereignissen/Critical Incidents (CI)
  • Konsens über einheitliche Erfassungs- und Analyseverfahren für Zwischenfälle und fehlerbedingte Ereignisse (Minimaldatensatz/Kerndatensatz)
  • Optimierung gebräuchlicher Qualitätsmanagementverfahren hinsichtlich der Berücksichtigung von Sicherheit und Fehlermanagement auf der Systemebene

Eine aktuelle Zusammenfassung zu diesem Aktionsplan findet sich in der Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität:
Rohe J, Diel F, Klakow-Franck R, Thomeczek C. Konzept der Ärzteschaft zur Behandlungsfehlerprävention. Z Evid Fortbild Qual 2008;102(9):598-604.

Aktivitäten des ÄZQ

Vor dem Hintergrund des zunehmenden Interesses am Thema Patientensicherheit richtete das ÄZQ im Jahre 2001 einen "Expertenkreis Patientensicherheit" ein.
 
Der Expertenkreis Patientensicherheit initiierte folgende Projekte:

Weitere Aktivitäten

Das ÄZQ war als Invited Observer im "Committee of Experts on Management of Safety and Quality in Health Care" des Europarates vertreten.

Das ÄZQ betrieb bis Juni 2020 das Berichts- und Lernsystem CIRSmedical.de, welches allen im deutschen Gesundheitswesen Tätigen zur Verfügung steht und das Lernen aus Fehlern ermöglichen soll.

Ab dem 1. Juli 2020 wird CIRSmedical.de und somit auch das "Netzwerk CIRSmedical.de" durch die Bundesärztekammer organisiert.

Die bisherige Organisationsweise, CIRSmedical.de als Projekt des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ) und damit in gemeinsamer Trägerschaft von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung zu betreiben, ist damit abgelöst worden.

Das ÄZQ hat gemeinsam mit dem Aktionsbündnis Patientensicherheit eine operationelle Einheit in Deutschland "LTA Germany" für das WHO Projekt High 5s gebildet, welches von 2009-2015 durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert wurde.

Das ÄZQ war an der Organisation des internationalen Kongresses "Patient Safety Research - shaping the European agenda" vom 24-26 September 2007 in Porto beteiligt.

Das ÄZQ unterstützte das Kompetenzzentrum Patientensicherheit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe. Dieses wurde auf Grund der Beauftragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Kassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland gegründet.

Das ÄZQ unterstützte die Arbeit der World Medical Association im Bereich Patientensicherheit in Aus-, Weiter- und Fortbildung.

Definitionen und Klassifikation zur Patientensicherheit

Das Themengebiet "Patientensicherheit" ist – wie in jungen und sich schnell ausbreitenden Wissenschaftsbereichen oft üblich – durch zahlreiche, zum Teil verwirrende Begriffsdefinitionen charakterisiert.
 
Für manche Begriffe existieren mehrere unterschiedliche Definitionen, die die Vergleichbarkeit von Studien erschweren. Außerdem kommen durch Übersetzungen aus dem Englischen in andere Sprachen weitere Begriffsunschärfen hinzu.

Folgende Schlüsselbegriffe und Definitionen wurden vom Aktionsbündnis Patientensicherheit veröffentlicht und finden zunehmende Verwendung im deutschen Sprachraum.

Patientensicherheit wird definiert als "Abwesenheit unerwünschter Ereignisse".
 

Unerwünschtes Ereignis (engl.: adverse event)
Ein schädliches Vorkommnis, das eher auf der Behandlung denn auf der Erkrankung beruht. Es kann vermeidbar oder unvermeidbar sein.
Beispiel: Ein Patient erhält Penicillin und entwickelt eine allergische Hautreaktion.

Vermeidbares unerwünschtes Ereignis (engl.: preventable adverse event)
Ein unerwünschtes Ereignis, das vermeidbar ist.
Beispiel: Vermeidbares unerwünschtes Ereignis: Ein Patient erhält Penicillin und entwickelt eine allergische Hautreaktion. Eine Allergie auf Penicillin war dem Patienten bekannt und war auch in der Patientenakte vermerkt.
Beispiel: Unvermeidbares unerwünschtes Ereignis: Ein Patient erhält Penicillin und entwickelt eine allergische Hautreaktion. Er hatte zuvor noch nie eine allergische Reaktion auf Medikamente gehabt.

Kritisches Ereignis (engl.: critical incident)
Ein Ereignis, das zu einem unerwünschten Ereignis führen könnte oder dessen Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht.
Beispiel: Der Patient hat eine ihm bekannte Penicillinallergie. Bei der Anamnese wird nicht nach bekannten Allergien gefragt und daher kein Warnhinweis in der Patientenakte angebracht.

Fehler (engl.: error)
Eine Handlung oder ein Unterlassen bei dem eine Abweichung vom Plan, ein falscher Plan oder kein Plan vorliegt. Ob daraus ein Schaden entsteht, ist für die Definition des Fehlers irrelevant.
Beispiel: Bei der Visite wird bei Verschreiben des Penicillins nicht auf Warnhinweise in der Patientenakte geachtet.

Beinahe-Schaden (engl.: near miss)
Ein Fehler ohne Schaden, der zu einem Schaden hätte führen können.
Beispiel: Einem Patient mit bekannter Penicillinallergie wird bei der Visite Penicillin verschrieben. Bevor ihm die Medikation verabreicht wird, fällt einer Krankenschwester der Warnhinweis "Penicillinallergie" in der Patientenakte auf. Ein anderes Präparat wird verschrieben.

Anmerkung
Der Begriff Beinahe-Fehler ist eine Fehlübersetzung des englischen Begriffs "near miss" (Beinahe-Schaden) und sollte nicht mehr verwendet werden.

Weitere Definitionen finden Sie im Glossar. Eine internationale Klassifikation für Patientensicherheit (The Conceptual Framework for the International Classification for Patient Safety, ICPS) wurde unter Federführung der World Alliance for Patient Safety der WHO entwickelt und im Januar 2009 als Version 1.1 veröffentlicht.

Fehlermanagement

Der Umgang mit Fehlern kann unterschiedlich sein: Die Fehlertheorie unterschiedet zwischen der personen- bzw. der systemorientierten Sichtweise.

Die personenorientierte Sichtweise

Im Gesundheitswesen ist, trotz einer positiven Veränderung in den letzten Jahren, die traditionelle, personenorientierte Sichtweise weit verbreitet. Ärzte/Ärztinnen oder Krankenschwestern/Pfleger werden – wenn ihnen ein Fehler unterläuft – persönlich beschuldigt (Wie konnte Ihnen das passieren? Warum passen Sie nicht auf?), gelegentlich vor Kollegen oder Patienten gemaßregelt bzw. bestraft und angewiesen "besser aufzupassen". Es wird dabei außer Acht gelassen, dass Fehler oft durch Sicherheitslücken im System entstehen und nicht durch die Fähigkeiten eines Einzelnen. Wird im Falle eines Fehlers nur der Einzelne gerügt und das systematische Problem nicht beseitigt, so kann sich der gleiche Fehler bei einem anderem oder dem gleichen Mitarbeiter wiederholen (Reason, 2000:768-70; Leape et al., 1998:1444-7).

Die systemorientierte Sichtweise

Verschiedene Forscher postulierten daher die Notwendigkeit eine systemorientierte Sichtweise im Gesundheitswesen, analog der in Hochrisikoindustrien (Atomkraft, Luftfahrt) üblichen, zu entwickeln und anzuwenden. Diese Perspektive geht grundsätzlich davon aus, dass Menschen fehlbar sind und dass das System selbst (z. B. ein Krankenhaus, eine Arztpraxis oder auch das Gesundheitssystem als Ganzes) sicher angelegt sein muss, um Fehler und daraus resultierende Behandlungsschäden zu vermeiden. Das bedeutet, dass organisatorische Prozesse, Geräte, Medikamentenverpackungen usw. derart gestaltet sein müssen, dass Fehlermöglichkeiten gering sind und dass trotzdem gemachte Fehler keine dramatischen Auswirkungen haben können (Reason, 2000:768-70; Leape, 1994:1851-7).

Die systemorientierte Sichtweise findet sich auch in Berichts und Lernsystemen (Critical Incident Reporting System (CIRS) wieder: Diese versuchen, systematisch aus Fehlern und unerwünschten Ereignissen zu lernen. Bei der Analyse der Ereignisse wird der Schwerpunkt auf die systematische Ursachenforschung gelegt.

Vor dem Hintergrund der systemorientierten Sichtweise entwickelte James Reason (englischer Psychologe) das Swiss Cheese Model of System Accidents.

Quellen

  1. Leape LL. Error in medicine.
    JAMA 1994;272(23):1851-7.
  2. Leape LL, Woods DD, Hatlie MJ, et al. Promoting patient safety by preventing medical error.
    JAMA 1998;280(16):1444-7.
  3. Reason J. Human error: models and management.
    BMJ 2000;320(7237):768-70.

Fehlertheorie

Vor dem Hintergrund der systemorientierten Sichtweise entwickelte der englische Psychologe James Reason, u. a. auch auf der Grundlage der Arbeiten des Dänen J. Rasmussen das Swiss Cheese Model of System Accidents (Reason, 2000:768-70; Reason, 1990).

Dieses sogenannte "Schweizer Käse Modell" geht davon aus, dass aus einer Gefahr nur dann ein Unfall oder ein unerwünschtes Ereignis entstehen kann, wenn die dazwischen liegenden "Sicherheitsbarrieren" (dies können Menschen oder auch technische Vorkehrungen wie z. B. Alarme sein) versagen, also Löcher entstanden sind. Diese Löcher müssen dann auch noch durch "besondere Umstände" genau in einer "Achse" liegen. Die Löcher entstehen durch aktives und latentes Versagen (active and latent human failure), werden durch beitragende Faktoren beeinflusst und sind außerdem "dynamisch", d. h. sie öffnen, schließen oder verschieben sich über die Zeit.

"Schweizer Käse Modell"

Swiss Cheese Model of System Accidents (nach Reason)
Abb.: Swiss Cheese Model of System Accidents (nach Reason)

 

Reason bezeichnet mit "sharp end" eine Schnittstelle zwischen einem Menschen und dem Gesamtsystem. Dies kann z. B. eine Mensch-Mensch- oder eine Mensch-Maschine-Schnittstelle sein.

Aktives und latentes menschliches Versagen (active and latent human failures)
(Reason, 1995:80-9):

"Aktives Versagen sind unsichere Handlungen (Fehler und Verstöße), die von den am "scharfen Ende" des Systems Tätigen begangen werden (Ärztinnen/Ärzte, Krankenschwestern/Pfleger etc.). Es sind die Menschen an der Schnittstelle Mensch-System, deren Handlungen unmittelbare Auswirkungen haben können bzw. haben."

"Latentes Versagen entsteht durch Entscheidungen, die auf den höheren Stufen einer Organisation gefällt werden. Ihre schädigenden Auswirkungen zeigen sich möglicherweise lange nicht, und sie werden erst dann offensichtlich, wenn sie mit lokalen auslösenden Faktoren (...) zusammentreffen und die Sicherheitsbarrieren des Systems durchbrechen."

Latentes Versagen (z. B. falsche Entscheidungen des Managements) kann aktives Versagen auslösen bzw. dazu beitragen. Aber auch psychologische Vorläufer (z. B. persönliche Probleme des Mitarbeiters, die zu mangelnder Konzentration führen), lokale Auslöser und untypische Bedingungen (z. B. Erkältungswelle verursacht volles Wartezimmer) können aktives Versagen mit verursachen.

Als Fazit der Fehlertheorie kann festgehalten werden, dass das Entstehen eines unerwünschten Ereignisses oder Unfalls (fast) immer viele Ursachen auf verschiedenen Ebenen der Organisation hat, die zusätzlich durch Faktoren außerhalb der Organisation beeinflusst werden. Nicht nur in Großorganisationen wie Kliniken, auch in der einzelnen Arztpraxis lohnt es sich, latente Sicherheitsprobleme, das Funktionieren von Barrieren und die mittelbar zum Auftreten eines Fehlers beitragenden Umstände zu analysieren, um die Sicherheit zu erhöhen.

Quellen

  1. Reason J. Human Error.
    Cambridge: Cambridge Univ. Pr., 1990.
  2. Reason J. Understanding adverse events: human factors.
    Qual Health Care 1995;4(2):80-9.
  3. Reason J. Human error: models and management.
    BMJ 2000;320(7237):768-70.

Prävention im Bereich Patientensicherheit

Die Prävention von unerwünschten Ereignissen ist das Ziel aller Aktivitäten im Bereich Patientensicherheit.

Entscheidend hierfür ist die in der jeweiligen Institution vorherrschende Sicherheitskultur. Die Sicherheitskultur kann durch spezifische Maßnahmen und durch das Engagement Einzelner aufgebaut und etabliert werden. Es besteht ein Wechselspiel zwischen Sicherheitskultur und Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit – eine Einführung von Maßnahmen ohne vorherrschende Sicherheitskultur ist mühsam, andererseits kann jedoch die Einführung von Maßnahmen die Sicherheitskultur verändern.

Unter Sicherheitskultur in der Medizin versteht man, dass eine Organisation (z. B. Arztpraxis, Krankenhaus) dauerhaft und auf allen Ebenen (Leitungsebene bis Mitarbeiterebene) danach strebt, dass Patienten (aber auch die Mitarbeiter) keine (vermeidbaren) unerwünschten Ereignisse durch die Gesundheitsversorgung davontragen.

Dabei spielen folgende Komponenten eine Rolle: Definition nach (Pizzi, Goldfarb 2001:447-57):

  • Bewusstsein, dass die Medizin ein Arbeitsfeld mit hohen Risiken – insbesondere für die Patienten – ist.
  • Atmosphäre, in der Mitarbeiter Fehler oder Beinahe-Behandlungsschäden berichten können, ohne Bestrafung fürchten zu müssen. Es existiert eine "just culture" und keine "blame and shame culture", und es kann aus kritischen Ereignissen gelernt werden. (s. a. CIRSmedical.de)
  • Zusammenarbeit über Hierarchien, Sektor- und Fachdisziplingrenzen hinweg, um Sicherheitslücken zu schließen.
  • Bereitschaft der Organisation, Ressourcen (z. B. Zeit, Geld) in die Verbesserung der Sicherheit zu investieren.

Quellen

  1. Pizzi LT, Goldfarb N. Promoting a Culture of Safety. Making Health Care Safer: A Critical Analysis of Patient Safety Practices. Evidence Report/Technology Assessment: 43. Ed. D. B. Nash. Rockville: Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ), 2001, pp. 447-57.

Die Sicherheitskultur von Organisationen kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Um den Mitarbeitern in Arztpraxen und Krankenhäusern Hinweise zu geben, wie und in welchen Bereichen die Sicherheitskultur verbessert werden kann, wurden Erhebungsbögen zur Sicherheitskultur entwickelt.

Manchester Patient Safety Framework (MaPSaF)

Das Manchester Patient Safety Framework (MaPSaF) wurde an der Universität Manchester entwickelt. Darin wird die Sicherheitskultur einer Organisation in 10 Bereiche unterteilt, die wiederum je 5 Ausprägungsstufen (Reifgrade) haben können.

Der "MaPSaF" kann beispielweise für folgende Ziele verwendet werden:

  • Um die Reflektion der eigenen Sicherheitskultur zu unterstützen.
  • Um eine Diskussion zu Stärken und Schwächen der Sicherheitskultur anzustoßen.
  • Um unterschiedliche Wahrnehmung der Sicherheitskultur in verschiedenen Berufsgruppen zu erkennen.
  • Um zu zeigen, wie eine "reifere" Sicherheitskultur aussehen könnte.
  • Um eine spezifische Intervention zur Förderung der Sicherheitskultur zu evaluieren. 

Erhebungsbogen zur Sicherheitskultur und Patientensicherheit der Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ)

Ein weiterer englischsprachiger Erhebungsbogen zur Sicherheitskultur und Patientensicherheit wurde von der Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) entwickelt und an unterschiedliche Versorgungsbereiche (Krankenhaus, Pflegeheim, Arztpraxis) adaptiert.

Organisationen können mit diesem Fragebogen:

  • Ihre Patientensicherheitskultur messen.
  • Veränderungen über die Zeit darstellen.
  • Den Einfluss von Maßnahmen zur Stärkung der Patientensicherheit evaluieren.

Auf der Webseite der AHRQ finden sich die englischsprachigen Fragebögen. (Patient Safety Culture Surveys. April 2009. Agency for Healthcare Research and Quality, Rockville, MD.)

Deutschsprachiger Fragebogen zum Sicherheitsklima in Hausarztpraxen

Ein deutschsprachiger Fragebogen zum Sicherheitsklima in Hausarztpraxen wurde vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt a. M. entwickelt. Er basiert auf dem Safety Attitudes Questionaire, ambulatory version (SAQ-A) und wurde in einem 5 stufigen Prozess übersetzt und an die Gegebenheiten deutscher Hausarztpraxen angepasst (Hoffman B, Domanska OM, Müller V, Gerlach FM. Entwicklung des Fragebogens zum Sicherheitsklima in Hausarztpraxen (FraSiK): Transkulturelle Adaptation - ein Methodenbericht. Z Evid Fortbild Qual 2009;103(8):521-29).

Häufigkeiten von unerwünschten Ereignissen

  
Stationärer Bereich

Die Harvard Medical Practice Study (1991) von Brennan und Leape untersuchte retrospektiv rund 30.000 Patientenakten von 1984 aus 51 Akutkrankenhäusern im Bundsstaat New York. Dabei fanden sich bei 3,7% der Patienten unerwünschte Ereignisse im Rahmen der medizinischen Behandlung. 58% dieser Ereignisse beinhalteten einen oder mehrere Fehler und galten somit als vermeidbar; 28% der Ereignisse wurden als Sorgfaltspflichtverletzung klassifiziert (Brennan et al., 1991:370-6).
Eine weitere Studie aus Utah und Colorado zeigte mittels der gleichen Methode 2,9% unerwünschte Ereignisse von denen rund 53% vermeidbar und 30% mit einer Sorgfaltspflichtverletzung behaftet waren (Thomas et al., 2000:261-71).

Weitere internationale Studien in England (Vincent, Neale, and Woloshynowych, 2001:517-9): 10,8% unerwünschte Ereignisse, 52% vermeidbar; Baba-Akbari Sari et al 2007 (Sari et al., 2007:434-9): 8,7% unerwünschte Ereignisse, 31% vermeidbar) und Australien (Wilson et al., 1995:458-71): 16,6% unerwünschte Ereignisse, 51% vermeidbar) kamen sogar zu höheren Ergebnissen, welche zum Teil auf eine unterschiedliche Studienmethodik zurückzuführen war.

Aus den Ergebnissen der Studien von Brennan, Leape und Thomas extrapoliert das Institute of Medicine in dem Bericht "To err is human" (Kohn et al., 2000), dass jährlich 44.000 bis 98.000 Todesfälle in US-amerikanischen Kliniken vermeidbar wären.

Für Deutschland fehlt bisher eine Studie nach Art der Harvard Medical Practice Study. Eine systematische Übersichtsarbeit (von 151 internationalen Studien) des Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) zeigte Häufigkeiten vermeidbarer unerwünschter Ereignisse (VUE) zwischen 0,1% und 10% (Schrappe et al., 2007).

Diese große Streuung liegt unter anderem an den unterschiedlichen Methoden und Größen der Studien und daran, dass die eindeutige Identifikation von VUE methodische Schwierigkeiten bereitet. Aufgrund einer Subgruppenanalyse der Studien geht das APS von einer geschätzten Mortalitätsrate durch vermeidbare unerwünschte Ereignisse bei Krankenhauspatienten in Deutschland von 0,1% aus. Bei 17 Millionen Krankenhauspatienten in Deutschland entspräche dies 17.000 Todesfällen pro Jahr. (Schrappe et al., 2007)

Ambulanter Bereich

Grundsätzlich hat die Erhebung von Daten zu unerwünschten Ereignissen im Gesundheitswesen zu Diskussionen geführt.
 
Die Datenlage zu unerwünschten Ereignissen und vermeidbaren unerwünschten Ereignissen in der ambulanten Versorgung ist unzureichend und Rückschlüsse aus den Daten der stationären Versorgung sind aufgrund der Strukturunterschiede problematisch. Wenige Studien haben sich bislang mit der Erhebung quantifizierbarer Daten beschäftigt und diese variieren stark bezüglich der verwendeten Definitionen, Methoden und Klassifikationen.

  • Ein Review fasst elf Studien mit z. T. unterschiedlichen Ereignisdefinitionen und Methoden der Datenerhebung zusammen und kommt zu folgendem Ergebnis: In 5 bis 80 von 100.000 Konsultationen treten Ereignisse in der Versorgung auf, die Patienten geschädigt haben oder hätten schädigen können (Sandars and Esmail, 2003:231-6).
  • In einer australischen Studie waren 86 repräsentativ ausgewählte Allgemeinmediziner aufgefordert worden, 12 Monate lang kritische Ereignisse in der eigenen Praxis anonym zu berichten. Dabei zeigte sich eine Berichtsrate von circa zwei Ereignissen pro 1000 behandelte Patienten pro Jahr (Makeham et al., 2006:95-8).
  • Eine Studie, welche auf einer Patientenbefragung über unerwünschte Ereignisse im Zusammenhang mit Medikamenten basierte zeigte, dass 25% der Patienten ein solches UE erlebt hatten. Von diesen Ereignissen wurden 11% als vermeidbar eingestuft (Gandhi et al. 2003:1556-64).
     

Quellen

  1. Brennan TA, Leape LL, Laird NM, et al. Incidence of adverse events and negligence in hospitalized patients. Results of the Harvard Medical Practice Study I.
    N Engl J Med 1991;324(6):370-6.
  2. Gandhi TK, Weingart SN, Borus J, et al. Adverse drug events in ambulatory care.
    N Engl J Med 2003; 348(16):1556-64.
  3. Kohn LT, Janet MC, Molla SD. To Err Is Human. Building a Safer Health System.
    Washington: National Academy Pr., 2000.
  4. Makeham MA,  Kidd MR, Saltman DC, et al. The Threats to Australian Patient Safety (TAPS) study: incidence of reported errors in general practice.
    Med J Aust 2006;185(2):95-8.
  5. Sandars J, Esmail A. The frequency and nature of medical error in primary care: understanding the diversity across studies.
    Fam Pract 2003;20(3):231-6.
  6. Sari AB,  Sheldon TA, Cracknell A, et al. Extent, nature and consequences of adverse events: results of a retrospective casenote review in a large NHS hospital.
    Qual Saf Health Care 2007;16(6):434-9.
  7. Schrappe M, Lessing C, Albers B, et al. Agenda Patientensicherheit 2007.
    Witten: Aktionsbündnis Patientensicherheit, 2007.
  8. Thomas EJ, Studdert DM, Burstin HR, et al. Incidence and types of adverse events and negligent care in Utah and Colorado.
    Med Care 2000;38(3):261-71.
  9. Vincent C, Neale G, Woloshynowych, M. Adverse events in British hospitals: preliminary retrospective record review.
    BMJ 2001;322(7285):517-9.
  10. Wilson RM, Runciman WB, Gibberd RW, et al. The Quality in Australian Health Care Study.
    Med J Aust 1995;163(9):458-71.

Kontroverse Diskussion der erhobenen Daten

Seit der Veröffentlichung des Berichts "To Err is Human" durch das IOM (Kohn et al., 2000) besteht eine rege und zum Teil hitzige Kontroverse um die tatsächliche Frequenz von vermeidbaren unerwünschten Ereignissen in der Gesundheitsversorgung (Leape, 2000:95-7; Hayward and Hofer, 2001:415-20; Hofer, Kerr and Hayward, 2000:261-9; McDonald, Weiner and Hui, 2000:93-5).

In Anbetracht der methodischen Schwierigkeiten, alle vermeidbaren unerwünschten Ereignisse zuverlässig und vollständig zu erheben, ist jedoch auch in Zukunft nicht mit endgültigen Zahlen zur Häufigkeit von unerwünschten Ereignissen zu rechnen.

Schwierigkeiten bei der Erhebung von Frequenzen von unerwünschten Ereignissen (UE):

  1. Die Erhebung unerwünschter Ereignisse bereitet Schwierigkeiten. Jede Methode (z. B. retrospektiver oder prospektiver chart review, freiwilliges Berichten, beobachtende Teilnahme, Verfahren bei den Schlichtungsstellen, Routinedaten) kann meist nur einen Ausschnitt aller UE entdecken.
    • Bei einer retrospektiven Untersuchung von Patientenakten im Krankenhaus (chart review) können nur solche Ereignisse entdeckt werden, die noch im Krankenhaus auftreten, bemerkt und dokumentiert werden.
    • Im Rahmen von freiwilligen Berichtssystemen werden die im Gesundheitswesen Tätigen nur solche Ereignisse berichten, die Ihnen selbst bewusst werden und die sie außerdem berichten möchten.
    • Bei der Untersuchung von juristischen Klagen bezüglich vermuteter unerwünschter Ereignisse stellt sich der sogenannte "litigation gap" ein. Dieser beschreibt die Diskrepanz zwischen der Anzahl tatsächlich stattgefundener unerwünschter Ereignisse und der Anzahl angestrebter Klagen. Nur ein Bruchteil der Patienten, die ein unerwünschtes Ereignis im Rahmen der Gesundheitsversorgung erleiden, strengt tatsächlich eine Klage an (Studdert et al., 2000:250-60).
  2. Die Beurteilung der gefundenen Ereignisse (vermeidbar oder unvermeidbar) beinhaltet – trotz aller Standardisierungsversuche – auch die subjektive Einschätzung des Reviewers (Hayward and Hofer, 2001:415-20), denn die vorliegenden Daten (z. B. Krankenakten) sind nicht immer eindeutig und verlangen Interpretation.
  3. Das Problem des "hindsight bias" tritt bei allen retrospektiven Methoden auf. Im Nachhinein – wenn man ein schwerwiegendes Ergebnis eines Ereignisses bereits kennt – tendiert man dazu, Kausalitäten und "offensichtliche" Handlungsnotwenigkeiten innerhalb des Ereignisablaufs zu erkennen, die möglicherweise so nicht zutreffend sind. Verkürzt kann man das Problem des "hindsight bias" auch als "Im Nachinhein weiss man alles besser" beschreiben.

Quellen

  1. Hayward RA, Hofer TP. Estimating hospital deaths due to medical errors: preventability is in the eye of the reviewer. JAMA 2001;284(4):415-20.
  2. Hofer TP, Kerr EA, Hayward RA. What is an error? Eff Clin Pract 2000;3(6):261-9.
  3. Kohn LT, et al. To Err Is Human. Building a Safer Health System. Washington: National Academy Pr., 2000.
  4. Leape LL. Institute of Medicine medical error figures are not exaggerated. JAMA 2000;284(1):95-7.
  5. McDonald CJ, Weiner M, Hui SL. Deaths due to medical errors are exaggerated in Institute of Medicine report. JAMA 2000;284(1):93-5.
  6. Studdert DM, et al. Negligent care and malpractice claiming behavior in Utah and Colorado. Med Care 2000;38(3):250-60.
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zuletzt verändert: 15.07.2023 | 14:08 Uhr